Ich lebe in einer mittelalterlich geprägten Stadt, in der Häuser merkwürdige Winkel haben, Reste der alten Stadtmauer in Wohnzimmern stehen und manche Mitbürger geistig noch immer nicht die Aufklärung mitgemacht haben. Hier sieht man sie überall: Jahrhunderte alte Zunfthäuser. Da trafen sich einst Metzger, Krämer, Apotheker, Hafner, Seiler und Rebleute. Sie besprachen wichtige Businessmodelle, diskutierten über Preise und Löhne und – im Fall des sehr hübschen und nicht weiten „Zunfthaus Zur Katz“ – trafen aufeinander, um sich mal kräftig zu besaufen. Denn die "Katz" wurde 1342 als „Trinkhaus“ errichtet. Über drei Bechern Wein wurde dann Lokalpolitik gemacht. Ihr seht schon: Gilden und Zünfte waren im Mittelalter nicht nur Interessenvertretungen, sondern auch ziemlich gesellige Angelegenheiten.
Alles Vergangenheit. Heute gibt es hier nur noch die Narrenzünfte. Die erinnern mich jedes Jahr Anfang Februar so ab 5 Uhr früh von selbst, wie super-gesellig sie sind. Und weil das ja womöglich der eine oder andere vergessen haben könnte, schmettern es auch die Fanfarenzüge durch alle Gassen: „Rättättä, rättättä, morgen ham wir Schädelweh“.
Bei Guildhall zum Glück nicht. Denn auch wenn wir hier Zünfte leiten (ohne Narren), so braucht’s zum Spielen weder Fasnachtsbier noch Narrenschnaps. Aber man kann schon arg ins hirnhautjuckende Grübeln kommen. Schädelweh am nächsten Morgen bleibt jedoch aus. Deswegen gebe ich Guildhall jederzeit den Vorzug in Sachen Zünfte.
Sechs verschiedene Berufe zieht es unter jedes Spielers Dach: Tänzerinnen, Weberinnen, Historiker, Händler, Meuchelmörder und Bauern. Jeder Beruf als Karte in fünf Farben. Vier mal. Die werden ordentlich gemischt und schon startet jeder in die Partie. Ziel sind 20 Siegpunkte.
Guildhall gibt mir direkt das Spielgefühl eines aufs Wesentliche reduzierten Sammelkartenspiels: Zwei Aktionen habe ich pro Zug, nutzbar auf drei Arten:
- Ich werfe beliebig viele Handkarten ab und ziehe sechs nach.
- Ich kaufe eine Prestigekarte.
- Oder – und hier pocht das Herz des Spiels – ich spiele eine Handkarte, um ihre Aktion zu nutzen.
Jede der Berufsgruppen hat eine andere Fähigkeit, die mit jedem Zunftmitglied unter meinem Dach auch noch mächtiger wird. Denn am Ende meines Zugs schließen sich die gerade gespielten Personen ihren Kollegen an.
Eine Einschränkung ist wichtig und wird in den ersten Partien gerne übersehen: Ich darf keine Duplikate legen und nie Karten spielen, deren Farb-Beruf-Kombination bereits bei mir ausliegt. Ist ja auch logisch; wenn der blaue Händler bereits im Zunfthaus hockt (und bechert), dann kann ich ihn nicht gleichzeitig aus dem Hut zaubern, damit er seine Händleraktion nutzt. Zwei gleiche Berufe darf ich in meiner Runde auch nicht spielen.
Wer bei Guildhall gewinnen will, der muss die Eigenschaften und Wechselwirkungen der Zünfte kennen und nutzen. Die Tänzerinnen lassen mich Karten nachziehen und bringen eine Zusatzaktion. Der Meuchler meuchelt, Bauern bringen Siegpunkte und die Weberinnen lassen mich Handkarten sofort ins Gildenhaus legen. Die Aktionen werden mächtiger, je voller die Bude ist. Die Zunft-Gemeinschaft macht stark, das passt zum Thema. Die Tänzerin lockt neue Menschen an, der Händler nimmt und gibt, der Bauer sorgt schlicht und direkt für Punkte und der Historiker wird umso besser, je später er genutzt wird. Denn dann hat sich mehr Vergangenheit angesammelt, aus der er schöpfen kann.
Habe ich irgendwann ein Set aus fünf verschiedenfarbigen Personen, drehe ich sie um und darf sie gegen Prestigepunkte abwerfen. Dann wiederum muß ich mich entscheiden: Weniger Punkte plus starke Extra-Aktion oder lieber das aktionsfreie Punktemonster? Die Situation entscheidet. Wunderbar geschmeidig und elegant ist dieser Mechanismus, dank dem sich volle Zünfte irgendwann in Punkte auflösen. Dadurch gleichen sich Vorsprünge aus und auch wenn starke Gilden reizvoll sind: Siegpunkte sind das erklärte Ziel.
An allen Enden und Ecken verlangt Guildhall von mir die optimale Nutzung meiner Hand und der schmalen Auswahl an Aktionen. Timing ist extrem wichtig wie auch die Reihenfolge, wann welche Karte gespielt wird. Es ist erstaunlich, wie viel Tiefe in Guildhall mit nur 120 Karten geschaffen wird. Ich gebe zu, Kartenspiele kann ich immer spielen – wenn ich aber das Gefühl habe, ein extrem dichtes Kennerspiel vor mir zu haben, das straffer geknüpft ist als das Meisterstück eines Teppichweber-Gesellen, dann ist das schon etwas besonderes.
Zu zweit kann sich mitunter das Problem einschleichen, dass ein führender Spieler davonrennt. Von daher würde ich Guildhall lieber zu dritt spielen. Dann gleicht sich das System besser aus und alle Spielzüge bleiben angenehm flott. Der gefürchtete Meuchler ist nicht mehr ganz so gefährlich, dafür hat der Händler mehr Potential und Auswahl.
[Auch auf Tric Trac ging es schon heiß her](//de.trictrac.net/news/naufragos-die-regeln) in Sachen Anleitung ([Download](https://www.pegasusshop.de/spielregeln/4250231705007.pdf)): Ja, sie ist getippt worden, als wäre Druckerschwärze billiger als Wasser. Das Layout ist klotzig und macht den Einstieg in einen an sich angenehm einfachen Spielablauf schwerer als nötig. Da hätte man Gleiches mit halb so vielen Worten, kürzeren Sätzen aber mehr Beispielen besser vermitteln können. Wie oft ich beim Vorlesen vor lauter „Zunfthaus“, „identisch“ und „Berufskarte“ den Spieltisch vollgespukt habe, ist mir jetzt noch peinlich. Trotzdem ist alles drin, selbst Spezialistenfragen, welche Informationen nun offen sind und welche nicht. Aber dass man auf Seite 12 von 16 schreiben muss: „Ach übrigens, sitzen weniger am Tisch, dann legt doch die und die Karten weg“, ist schändlich für die Zunft der Regelschreiber. Sowas gehört ganz vorne hin!
Dennoch: Hope S. Hwang hat mit Guildhall ein brillantes, kompaktes Kartenspiel entwickelt. Es glänzt durch Kartencombos, die es zu entdecken und auszuprobieren gibt, quälend wichtigen Entscheidungen und sowohl schöner Interaktion als auch taktischer Herausforderung. Alle müssen ständig aufpassen und dürfen nicht nur bei sich optimieren. Guildhall entwickelt Suchtpotential, denn nach jeder Partie will man direkt noch mal spielen, um diesmal seine Zünfte besser zu managen.
Die Illustrationen sind dunkel, aber mal was anderes, und das Cover ist mir altem Spießer zu sehr auf die Körbchengröße der Tänzerin schielend. Die Symbolsprache ist verständlich und nach fünf Minuten gelernt. Und zuguterletzt ist das Zunft-Thema zwar ist unaufgeregt, passt aber wunderbar zur Mechanik.
Nehmt das kleine und preiswerte Guildhall doch mal mit in Eure örtliche Zunft der Brettspieler. Damit kann man eigentlich nichts falsch machen. Mir hat das Spiel mit Gilden und Zünften gut gefallen, so dass ich jetzt sogar der lautstarken Konstanzer Narrenzünfte wieder etwas versöhnlicher gegenüber stehe.